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Fragen & Antworten mit Regiseur Ari Folman

F: Bei „Wo ist Anne Frank“ handelt es sich um einen Holocaust-Film. Weshalb haben Sie für Ihren Film ausgerechnet Animation als Medium gewählt?

A: Ich sehe dies als Mittel, ein jüngeres Publikum anzusprechen. Vor acht Jahren ist der Anne Frank Fonds in Basel genau aus diesem Grund an mich herangetreten und hat mich dabei gezielt nach einem Animationsfilm angefragt. Gesucht wurde nach einer neuen Dimension, die Geschichte des Holocausts zu vermitteln. Daraufhin entstand die Idee, Kitty in der Hauptrolle aufleben zu lassen und sie zur Hauptfigur des Films zu machen - zur Erzählerin. Zwei weitere Kriterien waren einerseits Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden. Andererseits sollten die letzten sieben entsetzlichen Monate im Leben von Anne Frank dargestellt werden. 

 

F: Und wie drückt sich diese neue Dimension im Film aus?

A: Unsere wichtigste Neuheit, wie erwähnt, bestand darin, aus Kitty, einer der imaginären Freundinnen Annes, eine tatsächlich existierende Person zu machen. In unserem Film ist Kitty, nicht Anne Frank, die Hauptdarstellerin. Sie macht sich auf die Suche, um herauszufinden, was nach dem Krieg mit Anne passiert ist. Wie ist Anne gestorben? Was ist mit ihr geschehen? Hierbei erfährt sie von der gegenwärtigen Situation in Europa, welches der Zielort einer

immensen Anzahl an Geflüchteten aus allen Teilen der Welt ist, die aus Kriegsgebieten entkommen sind.

 

F: Die Animation wurde von Lena Guberman erstellt. Wie haben Sie beide – angesichts der schier unendlichen Möglichkeiten, die Ihnen dieses Medium bietet – entschieden, wie der Film am Ende auszusehen hat?

A: Klar, mit Animation lässt sich die bestehende Welt neu gestalten. Als Erstes mussten wir Kitty und Anne entwickeln. Ich denke, wir haben es geschafft, beiden sehr herzliche, warme Persönlichkeiten zu geben. Lena ist eine herausragende Künstlerin und hat beide auf eine ausgesprochen bezaubernde Weise gezeichnet. Gleich zu Beginn haben wir jedoch festgelegt, dass wir mit einem bestimmten Muster des Genres brechen wollen. Die meisten Kriegsfilme stellen die Gegenwart in Farbe dar und die Vergangenheit in Schwarzweiß. Wir hingegen machten es diesmal umgekehrt. Das heutige Amsterdam wird in unserem Film also in Schwarzweiß gezeigt. Es ist Winter und die Stadt ist völlig farblos geworden. Auf der anderen Seite ist die Vergangenheit von Annes Perspektive aus betrachtet sehr lebendig, farbenfroh und schillernd. Das wurde zum Leitfaden des Films. Zudem haben wir unsere Ausdrucksmöglichkeiten in keiner Weise eingeschränkt, wie ich es bei früheren Animationsfilmen getan hatte. Wir haben uns mit den Farben ausgetobt, vor allem, wenn Annes Fantasie und Träume zum Vorschein kamen.

 

F: Können Sie uns mehr über Ihre Gründe erzählen, weshalb Sie bei diesem Projekt mit Lena Guberman zusammengearbeitet haben?

A: Ich halte Lena für ein Genie. Sie erschafft die wohl besten Animationsfiguren, die ich je erlebt habe. Ihre Denkweise ist wie für die Umsetzung von Bildern gemacht. Schließlich besteht unsere Arbeit nicht bloß in der Zeichnung von Bildern. Entscheidend ist es, sie in Bewegung zu bringen. Außerdem ist Lena die perfekte Partnerin für eine derartige Aufgabe. Sie ist alles andere als egozentrisch. Sie

ist bescheiden, arbeitet zielstrebig und ihr toller Charakter birgt unglaublich viel Talent.

 

F: Welche technischen Mittel haben Sie für den Film verwendet?

A: Zum ersten Mal wird Anne Franks Geschichte vollständig in Zeichnungen geschildert. Es geht um 159.000 einzelne Zeichnungen, die in 15 Ländern entstanden sind. Diese Vorgehensweise verleiht dem Film eine lebhafte, lebendige Atmosphäre. Die Geschichte ist fließend, ohne den Zuschauer:innen viel abverlangen zu wollen. Hierzu haben wir eine völlig neue Technik entwickelt, bei der statische Hintergründe mit klassischen, animierten Figuren in 2D verknüpft werden. Das Hinterhaus haben wir als Miniaturmodell nachgebaut. Auf diese Weise konnten wir Bilder von echten Landschaften erzeugen, die von richtigen Kameras aufgenommen wurden. In diese Hintergründe haben wir schließlich gezeichnete Figuren als Animation integriert. Etwas, was wirklich innovativ ist. Für die Filmbranche ist diese Technik etwas komplett Neues.

 

F: Kitty war schon immer da. Allerdings nur im Tagebuch und nicht als tatsächliche Person. Wie haben Sie es geschafft, sie als Figur im Film zu entwickeln und gleichzeitig den Vorstellungen, die Anne Frank über Kitty hatte, gerecht zu werden?

A: Anne Frank hat uns eine Menge Input zu Kitty hinterlassen: Wer sie ist, wie sie aussieht, welche Art von Mensch sie ist. Und selbstverständlich sind da noch Annes Gespräche mit Kitty. Für unseren Film ging ich einen Schritt weiter. Ich machte aus Kitty ein Alter Ego von Anne. In gewisser Hinsicht habe ich ihr eine extrovertierte Persönlichkeit verliehen. Bei ihr handelt es sich um eine Kämpferin, die im Gegensatz zu Anne nicht der elterlichen Kontrolle untersteht und somit mehr Freiraum hat. Im Falle von Kitty gibt es keine Mitbewohner:innen in ihrem Versteck, die sie zurechtweisen. Somit kann sie all das tun, was Anne in ihren Vorstellungen schon immer machen wollte. Wir konnten also nicht anders, als Kitty so zu gestalten. Weshalb sonst hätte Anne Kitty erfinden sollen? 

 

F: Aus Kitty wird im Film eine Aktivistin, die sich in der Gegenwart für geflüchtete Menschen einsetzt. Sehen Sie Kitty als Teil von neuen, politischen Jugendbewegungen zum Klimaschutz und Menschenrechten?

A: Definitiv ist sie ein Kind unserer Zeit. Anfangs war Kitty nur Annes imaginäre Freundin. Im Film hingegen baut sie eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Auf ihrem Weg durch die Welt trifft sie auf junge Menschen wie sie selbst, die in Gefahr sind – vermutlich deshalb, weil sie aus Kriegsgebieten fliehen mussten. Ein Umstand, der Kitty an Anne und die Tatsache erinnert, dass Anne während ihrer relativ kurzen Zeit im Versteck keine Gelegenheit zur Flucht hatte. Kitty wird durch diese Erfahrung zu einer Aktivistin. Gleichzeitig wird sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst, eine Bewegung für Kinderrechte zu starten. Und diese Fähigkeiten ergeben sich daraus, dass sie in unserer Welt zu Gast ist.

 

F: Das Publikum setzt sich zusammen mit Kitty mit dem Holocaust auseinander. Waren diese Szenen besonders schwierig für Sie? Wie sind Sie mit ihnen umgegangen?

A: Die schwierigste Aufgabe im ganzen Film war es, die eine Szene umzusetzen, in der die Familie Frank im Konzentrationslager Auschwitz ankommt. Wie können wir Kindern diesen historischen Augenblick näherbringen? Das Animationsgenre eröffnet uns sehr viele Möglichkeiten. Allerdings mussten wir eine bedachte Vorauswahl treffen. Ich stieß letztendlich auf eine Menge Ähnlichkeiten zwischen den Mordstätten der Nationalsozialist:innen während des Zweiten Weltkriegs und der Unterwelt in der griechischen Mythologie. Anne Frank war von der griechischen Mythologie fasziniert. Die Nationalsozialist:innen hatten Züge, Transportmittel, Selektionsverfahren und Tötungsanstalten. In der von Anne Frank so verehrten griechischen Mythologie gibt es zwar keine Züge, aber Fähren. Es gibt kein Land, dafür aber Flüsse. Und es gibt Selektionen, die von Hades, dem Gott der Unterwelt, vorgenommen werden. Hunde gibt es dort auch, wie im Nationalsozialismus. Dort waren die Hunde an den Gleisen in der Nähe der Lager. Mein Gedanke war es, eine Montage zusammenzustellen, um jedem verständlich zu machen, was die Familie Frank in diesem Lager durchgemacht hat. Einerseits sollten diese Erfahrungen anhand von Bildern aus der griechischen Mythologie dargestellt werden, andererseits durch Worte, die die eigentliche Geschichte erzählen. Zugleich sollten diese Szenen nicht allzu plastisch und schwerfällig werden.

 

F: Gibt es für Sie irgendwelche Grenzen bei der Aufarbeitung des Holocausts?

A: Im Gegensatz zu anderen Holocaust-Filmen wollten wir das Ende von Anne und Margot nicht realistisch darstellen. Ganz gleich, ob wir mit Animationen oder in einem herkömmlichen Filmformat arbeiten: Es gibt keine richtige filmische Darstellungsform für das, was passiert ist. So richtig verstehen, was damals geschehen ist, kann meiner Meinung nach niemand. Wir können uns nicht wirklich vorstellen, was passiert ist. Ich bin in einer Familie von Holocaust-Überlebenden aufgewachsen und habe die grausamsten Geschichten, die ein Kind jemals erfährt, zu hören bekommen. Doch unser Verstand ist nicht in der Lage, eine visuelle Verbindung zu diesen Geschichten aufzubauen und kann die Geschehnisse nicht vollständig verarbeiten. Dies ist eine Aufgabe, die uns alle überfordert. Aus diesem Grund habe ich, um die Geschichte zu erzählen, eine Allegorie entwickelt, indem ich die Mittel benutzte, die uns Animation und Zeichnung zur Verfügung stellen, um imaginäre Welten zu erschaffen.

 

F: Der Film basiert auf den im Tagebuch enthaltenen Informationen und den ausführlichen Dialogen zwischen Anne, Kitty und Margot. Wie ist es Ihnen gelungen, diese zu erarbeiten, ohne in das Format eines rein didaktisch ausgerichteten Dokumentarfilms zu verfallen?

A: Geistig habe ich das, was man eine interne Zensurbehörde nennen könnte. Wann immer ich in Klischees zu tappen scheine, korrigiere ich mich sofort und versuche, daraus einen Teil der Geschichte zu machen. Niemand besser als Kinder spürt das, wenn Filmemacher:innen ein Publikum erreichen wollen, aber dabei zu Lehrer:innen werden. Die entscheidenden Faktoren für eine überzeugende und sinnvolle Geschichte sind daher die Dialoge und das Format, mit dem wir die Geschichte erzählen. 

 

F: Die Geschichte des Holocausts zu erzählen, ist bereits eine äußerst anspruchsvolle Angelegenheit. Wie haben Sie die Sprache und das Medium gewählt, um Ihrem Publikum diese Geschichte nahezubringen?

A: Ich habe mich einfach an die Vorstellungskraft gewandt. Wenn man eine solch ernste Geschichte erzählen muss, kann man entweder mit Humor oder mit vielen Emotionen arbeiten. Beides ist machbar. Allerdings läuft man Gefahr, sein Publikum zu verlieren, wenn man es mit einer der beiden Aspekte übertreibt und die Zuschauer:innen dazu drängt, in abgedroschene Klischees von Leid und Elend einzutauchen. Es ist wichtig, die menschliche Seite der Figuren ausgewogen darzustellen und zu vermeiden, dass die Emotionen Überhand gewinnen und man in Effekthascherei verfällt. 

 

F: Sie bieten einen neuen, völlig anderen Ansatz für das Tagebuch, das beim jungen Publikum bereits hinlänglich bekannt ist. Verraten Sie uns, was genau hinter Ihrer Idee steckt?

A: Ein Großteil des im Tagebuch verwendeten Ro materials haben wir beibehalten. Die Szenen, die sich in der Vergangenheit abspielen, erzählen die Geschichte des Tagebuchs, und sogar die Zukunft nach dem Holocaust ist im Tagebuch in gewisser Weise vorweggenommen worden. Der Film erzählt die Geschichte jedoch auf eine ganz andere Weise, nämlich nicht als Monolog von Anne, sondern als Dialog zwischen den Mädchen. Die imaginäre Freu din wird für uns Zuschauer:innen real. Und beide besprechen miteinander die Dinge, die Anne als ihren Monolog niedergeschrieben hatte. Im Prinzip haben wir hier eine andere Art, dieselbe Geschichte zu erzählen. 

 

F: Wie viel vom Tagebuch und wie viel Ari Folman stecken in Kitty?

A: Kitty hat im Film ihre eigene Persönlichkeit, die losgelöst von Anne ist. Bei Kitty handelt sich nicht um eine Erweiterung oder Wiedergeburt von Annes Charakter nach ihrem Tod. In dem Moment als Kitty das Haus verlässt und in die weite Welt geht, verfügt sie über ihre eigenen Möglichkeiten. Und das, obwohl diese Optionen von mir als Drehbuchautor vorgegeben sind.

 

F: Mutter Edith und Herrn Dussel wird im Tagebuch stellenweise als schwierig dargestellt. Sie hingegen zeichnen ein p sitives Bild dieser Beziehungen? Warum?

A: Spricht man mit Kindern über ihre Eltern, bekommt man in der Regel etwas Schlechtes zu hören – unabhängig davon, wie es tatsächlich ist. Allgemein neigen Jugendliche dazu, eine negative Haltung gegenüber ihrer direkten Umgebung und der Welt als Ganzes einzunehmen. Jugendliche wollen rebellieren. Wahrscheinlich wird diese Einstellung sogar noch verstärkt, wenn junge Menschen während ihrer Jugend gezwungen sind, zwei Jahre lang in Isolation zu leben. Möglicherweise hat Anne daher ihre Umgebung nicht ganz realitätsnah beschrieben. Genau aus diesem Grund sollten wir ihrer Mutter, die Anne fast durchgehend zu verurteilen scheint, etwas Mitgefühl entgegenbringen. Dasselbe gilt für ihren Mitbewohner. Auch wenn beide regelmäßig aneinandergeraten. In diesem Sinne habe ich diese Figuren ausgebaut.

 

F: Aber Sie sind davon überzeugt, dass das Tagebuch Kindern eine solide Grundlage für den Geschichtsunterricht bietet?

A: Das bin ich. Das Tagebuch ist zutiefst menschlich, liest sich recht gut, ist leicht verständlich und erklärbar. Und all die furchtbaren Erfahrungen, die Anne und Margot durchlebten, nachdem Anne gezwungen worden war, mit dem Schreiben aufzuhören, fehlen. Es gibt keinerlei Beweise von ihr, die belegen, was ihr in diesen sieben Monaten – der schlimmsten Zeit ihres Lebens – widerfahren ist. Das macht es in der Form eines schönen, intelligent und mutig geschriebenen Tagebuchs einfacher, eine allgemeine Geschichte über ein Mädchen zu erzählen, das im Krieg isoliert und unter ständiger Todesgefahr lebte. Allerdings lässt diese Geschichte die schrecklichen Schicksale derjenigen aus, die in den Ghettos verhungert sind oder derjenigen, die in den Zügen Richtung Osten deportiert wurden, um Opfer der „Endlösung“ zu werden.

 

F: Sind Sie Kittys Spur tatsächlich gefolgt?

A: Kitty geht den Weg, den Anne in Europa gegangen ist: Zusammen mit ihrer Familie wurde sie zunächst in einem herkömmlichen Zug, der ebenfalls ganz gewöhnliche Passagiere beförderte, Richtung Durchgangslager Westerbork verfrachtet. Anschließend ging es nach Auschwitz in Polen und von dort aus nach Bergen-Belsen. Für meine Recherche bin ich denselben Weg gegangen und heute wirkt Westerbork wie ein Park. Der Ort ist dermaßen von Natur umgeben, dass man sich kaum vorstellen kann, was dort während des Krieges geschah. Durch meine Eltern war ich schon mehrmals in Auschwitz gewesen. Beim Besuch des KZ Bergen-Belsen fand ich, dass es mit viel Aufwand als Gedenkstätte gestaltet worden war. Viel von den ursprünglichen Strukturen ist nicht mehr übrig. Stattdessen erhalten Besucher:innen ein iPad mit einem Zeitzeugen:innenbericht eines Überlebenden, der die eigene Vorstellungskraft in Gang setzt. Leicht erweitert, habe ich diese Reise in Kittys Geschichte integriert. Es werden alle Menschen gezeigt, denen Kitty auf ihrem Weg begegnet ist. Zeitgleich erfährt das Publikum, wie die ganze Welt hinter ihr her ist, weil sie das geheime Tagebuch gestohlen hat.

 

F: Neben Ihrer künstlicheren Arbeit haben Sie also auch geforscht?

A: Die Arbeiten an diesem Projekt dauerten acht Jahre. Einer der Gründe hierfür war, dass wir vor dem Schreiben tiefgreifende, umfassende Recherchen zu jedem einzelnen Aspekt betreiben mussten. Hinter dem Drehbuch verbirgt sich wirklich eine Menge Wissen. Wir arbeiteten mit einem Team von Forschenden zusammen und besuchten verschiedene Archive, vor allem aber die Archive der Familie Frank, die vom Anne Frank Fonds in Basel und Frankfurt geführt werden.

 

F: Die Arbeit am Drehbuch begannen Sie ein paar Jahre vor der Flüchtlingskrise von 2015. Wie haben die damaligen Fernsehbilder Ihre Arbeit am Film beeinflusst?

A: Ich würde sagen, dass sich das Drehbuch parallel zum eigentlichen Alltag entwickelt hat. Ende 2013, dem Anfang meiner Arbeit, kreisten meine Gedanken nicht hauptsächlich um Geflüchtete. Vielmehr hatte ich junge Mädchen in Kriegsgebieten im Kopf, die ähnliche Erfahrungen wie die von Anne Frank durchleben mussten. Doch als 2018 und 2019 die Zuwanderung von Kriegsgeflüchteten nach Europa einen Höhepunkt erreichte, schrieb ich das Drehbuch um. Und das, obwohl wir es bereits als Grundlage für den ersten Teil der Animation verwendet hatten. Ursprünglich ging es im zweiten Teil um Mädchen in Kriegsgebieten. Anschließend ging ich diese Abschnitte durch und befasste mich mit Kindern, die aus Kriegsgebieten fliehen und in Europa Schutz suchen. Genau darin liegt einer der Vorteile von Animationsfilmen: Produktionen sind so zeitintensiv, dass man auch mitten im Projekt noch Änderungen vornehmen kann. 

 

F: An dieser Stelle haben Sie Awa eingeführt, ein Flüchtlingsmädchen aus Afrika. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

A: Awa ist aus Mali geflüchtet. Ich habe recherchiert, wie und über welche Routen afrikanische Geflüchtete Europa erreichen. Da der Film in Amsterdam spielt, fand ich es angemessen ein afrikanisches Mädchen in die Story einzubauen. Und die Geschichte erstreckt sich über drei Generationen, von Anne, die sich Kitty ausgedacht und ihr das Tagebuch weitergegeben hat, bis zu Kitty, die Awa findet und ihr das Tagebuch übergibt. Trotzdem möchten wir den Holocaust keinesfalls mit den Flüchtlingsströmen vergleichen, die Europa in den letzten fünf Jahren erreicht haben. Diese beiden Ereignisse können ohnehin nicht miteinander verglichen werden. Wir möchten lediglich darauf aufmerksam machen, dass aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen inzwischen weltweit jedes 5. Kind in Lebensgefahr ist. Wir möchten dem Publikum zeigen, was es bedeutet, als Kind in einen Krieg hineingeboren zu werden, den man weder versteht noch an dem man beteiligt ist. So gesehen, weisen die Geschichten von Anne und Awa durchaus Parallelen auf. 

 

F: Viele junge Menschen sind heutzutage Teil von Bewegungen, mit denen die Welt verändert werden soll. Die Jugend wird aktiv. Wie nehmen Sie das in Bezug auf den Film wahr?

A: In meiner Heimat Israel sehe ich, dass Aktivist:innen aus verschiedenen Generationen kommen. In der Sommerhitze und inmitten des starken Regens, war es jedoch eben die jüngere Generation, die jedes Wochenende vor dem Haus des damaligen Ministerpräsidenten Netanyahu demonstrierte. Und schließlich gewannen sie: Die korrupte Regierung wurde durch eine neue Regierung abgelöst. Nun nach ein paar Jahren ist Netanjahu mit einer noch rechteren Regierung wieder da. Ich hoffe und bin sicher, dass diese junge Generation wieder wirksam darauf reagieren wird. Die Welt befindet sich in einem Wandel. Rassismus, Gewalt und Antisemitismus nehmen zu. Aber irgendwann erreicht man eine Einstellung, die dazu führt, dass man sich in seine eigene Komfortzone zurückzieht und dort verharrt. In den letzten Jahren hat sich Israel politisch gesehen sehr stark nach rechts bewegt. Eben dieser Rechtsruck, löste vor Corona starke Proteste aus, die hauptsächlich von jungen Menschen in ihren Zwanzigern, angeführt wurden. Dieses Engagement empfinde ich als bewegend und großartig, weil dadurch Hoffnung entstand.

 

F: Als das Projekt ins Leben gerufen wurde, hatte Antisemitismus noch nicht das Ausmaß erreicht, mit dem wir heutzutage konfrontiert sind. Kann der Film dieser Entwicklung entgegenwirken?

A: Holocaustleugnung ist in erster Linie unter Extremist:innen abseits der Gesellschaft zu finden. Es gilt, unsere Bemühungen stärker auf den Kern der Gesellschaft zu verlagern, um dem schleichenden Verfall dieser Geschichte Einhalt zu gebieten und diese Ereignisse als lebenswichtig darstellen und zu verdeutlichen, dass diese keineswegs verstaubte Überreste der Vergangenheit sind. Das ist viel entscheidender. Ebenso sollten Kinder nicht mit Klischees und dogmatischen Aussagen und Ängsten aufgezogen werden. Dafür sind sie viel zu clever, denn sie werden mit den Technologien, die sie heute nutzen, so schnell erwachsen. Es ist wirklich beeindruckend, wie schnell Kinder Wissen aufsaugen können. Und das sogar im Alter von 3 oder 4 Jahren, sobald sie zum ersten Mal einen Bildschirm berühren und lernen, damit umzugehen. Hierbei sollten sie auf gutes, richtiges und relevantes Wissen treffen und es verarbeiten. Es wird nicht möglich sein, mit ihnen eine Beziehung aufzubauen, wenn wir es nicht schaffen, Geschichten zu erzählen, die zu ihrer Art, Dinge anzugehen, passen. 

 

F: Ist das der Grund, weshalb Sie für den Film ein Bildungsprogramm entwickelt haben?

A: Ja. Zusammen mit dem Anne Frank Fonds in Basel haben wir ein tolles Bildungsprogramm entwickelt. Es gibt bereits das Graphic Diary, das im Herbst 2017 während den Arbeiten am Film veröffentlicht wurde. Seitdem wurde das Diary in 30 Sprachen übersetzt. Unter demselben Titel „Wo ist Anne Frank“ haben wir jetzt auch jeweils den Film und die Geschichte zu Kitty als Graphic Novel rausgebracht. Zusätzlich haben wir pädagogisches Begleitmaterial für Schulen, Lehrer:innen und Schüler:innen zusammengestellt, das eine Fülle von Wissensinhalten enthält und die künstlerischen Projekte ergänzt. Damit wird ein Bedarf bedient, dem wir in der heutigen Zeit begegnen, und es bietet sich die Gelegenheit, Geschichte und aktuelle Themen in die Klassenzimmer zu bringen. 

 

F: Sie erwähnten das Buch, mit dem die Geschichte von Kitty erzählt wird. Dieses Buch beschäftigt sich – anders als das Graphic Diary – direkt mit dem Holocaust. Können Sie uns mehr davon berichten?

A: Anne Frank wird als junges Mädchen wahrgenommen, das während des Krieges eingeschlossen war. Die „Endlösung“ fehlt in ihrem Tagebuch, weil sie darin nicht darüber geschrieben hat. Aus diesem Grund wird dieses Thema in den bisherigen Filmen über Anne Frank ebenfalls nicht behandelt. Das Kitty-Buch hingegen ist eine Fortsetzung des Graphic Diary und erzählt darüber, was mit Anne passiert ist, nachdem die Familie verraten und deportiert wurde. In dem Buch geht es um die letzten sieben Monate in Annes Leben. Durch Kitty wird im Buch die Geschichte vervollständigt, die Anne nicht zu Ende schreiben konnte.

 

F: In dem Buch lassen Sie Kitty einen Brief an Anne schreiben – die erste Antwort, die Anne jemals auf ihre eigenen Briefe erhalten hat. Wie sind Sie an diesen Teil des Buches herangegangen?

A: Bei der Arbeit an dem Buch war es für mich sehr wichtig, eine Verbindung zwischen beiden Seiten zu schaffen. Die Beziehung zwischen Kitty und Anne sollte keine Einbahnstraße sein. Nachdem Kitty herausgefunden hat, dass Anne verstorben ist und in Bergen-Belsen den Gedenkstein mit ihren Namen entdeckt, schreibt sie Anne einen Brief, in dem sie ihr verspricht, ihren Traum zu erfüllen, so viele Menschen, wie nur möglich, zu retten. Sie verspricht auch, sich zu verlieben. Ein weiterer Herzenswunsch Annes. Zwischen den beiden Mädchen herrscht eine Art Freundschaftsschwur. Das war die Grundidee dahinter.